Der verschleppte Kampf der Politik gegen Kinderpornografie

Kaum gerät die Politik selbst in den Strudel eines Missbrauchsfalles, merkt man wie kopflos und falsch sie reagiert.

Mit dem Fall Edathy kommt in der hohen Politik der Alltag an. Der Alltag im Umgang mit sexuellem Missbrauch. Mitten unter uns, jeden Tag, zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Schuld sind immer die anderen

Die Politik beklagt die langsame Vorgehensweise des BKA. Wie kann es sein, so schreien alle ganz laut in jede Kamera, die sich ihnen bietet, dass die Erkenntnisse aus dem kanadischen Fall Spade so lange liegen blieben. Die einen werfen dem BKA wahlweise Vertuschung oder Konspiration gegen den NSU-Ausschuss-Chef Edathy vor. Die anderen sprechen einfach von unfähigen Trotteln im Bundeskriminalamt.

In diesen (zwei Wochen dauernden) hysterischen Ausfällen nimmt sich niemand die Zeit, mit den Fachleuten zu sprechen, für die das tägliches Geschäft ist. Opferberatungsstellen wissen: Wenn Anzeige wegen Missbrauchs erstattet wird, dann gibt es so gut wie nie zügige Ermittlungen. Warum? Weil die Strafverfolgungsbehörden unterbesetzt und überarbeitet sind.

Bereits im August 2008 forderte das BKA gemeinsam mit Dunkelziffer e.V. und Innocence in Danger e.V. neue Wege in der Bekämpfung von Kinderpornografie, der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen. Auch der Rücktritt des prominenten Staatsanwalts Peter Vogt aus Halle im Jahr 2009 richtete das Augenmerk auf den Missstand: Es wird zu langsam ermittelt, denn die Strafverfolger sind hoffnungslos unterbesetzt. Gleichzeitig explodieren missbräuchliche Sexualisierung, Cybergrooming und Kinderpornografie im Netz zusammen mit der rapiden Zunahme von mobilen Endgeräten. Vogt sagte mehrfach, „wir haben den Kampf gegen Kinderpornografie verloren.“ Die Presse berichtete ein wenig, die Gesellschaft war sorgenvoll verwundert, alle wollten ein bisschen was tun. Irgendwie so.

Passiert aber ist – nichts.

Nirgends gibt es so wenige Cybercops und eine so netzaffine Anti-Kontroll-Lobby wie hierzulande.

Nun trifft das Resultat genau dieses Zustandes die Politik. Sie reibt sich verwundert die Augen und sucht nach Schuldigen. Natürlich immer wo anders, nie bei sich, ihren Entscheidungen und Haltungen.

Die Politik hat die Mittel in der Hand

Die Politik ist ja auch schon seit drei Jahren ganz nah dran – eigentlich. Es gab einen „Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch“ und es gibt einen „Beauftragten zu Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs„. Aber wenn die politischen Institutionen selbst betroffen sind, man denke an die Diskussion um die Grünen, aktuell die SPD und, wenn man so will, die gesamte Regierung, dann tun alle so, als passiere etwas völlig neues, außergewöhnliches.

Wir stellen also fest: die politischen Akteure, vom Gesetzgeber über die Regierung bis zur Staatsanwaltschaft reagieren in einem solchen Fall wie eine schrecklich normale Familie oder eine ordinäre Institution, die von Missbrauch betroffen ist: Hektisch bis hysterisch versucht man alle Verantwortung von sich zu weisen, verwischt in lautem Gezänk alle Spuren und streitet sich hauptsächlich um die eigene oder die Reputation des armen Täters. Nur die Opfer bleiben allein – mal wieder. Man muss sich vorstellen: Seit zwei Wochen wird der Fall Edathy im deutschen Fernsehen verhandelt und es kam dort noch kein einziger Betroffener zu Wort.

Das ist ein Skandal.

Das führt den Bürgern vor, wie wenig der Kampf gegen sexualisierte Gewalt in der Politik bisher wirklich angekommen ist. Es sind die Regierenden, die jetzt zeigen, dass sie so gut wie nichts begriffen haben von dem, was Missbrauch darstellt und ihn ausmacht.

Man hätte gewarnt sein können.

Erinnern wir uns wie kaltschnäuzig die Länder den Hilfsfonds für Opfer sexueller Gewalt boykottierten; wie lässig Frau Leutheusser-Scharrenberger die Verlängerung der Verjährungsfristen sabotierte; wie dreist die Grünen ihre pädophil unterströmte Vergangenheit erst leugneten, dann schönredeten und die Existenz von Opfern in den eigenen Reihen auch heute noch bestreiten. Gerade so, als hätte es das Canisius-Kolleg, die Odenwaldschule, die Berliner Parkeisenbahn, den Jungen, der seinen Peiniger vor Verzweiflung umgebracht hat, den Bericht Pola Kinskis, die Missbrauch geradezu verherrlichenden Sätze Cohn-Bendits, die verschleppte Aufklärung der Heimkinder Ost, etc., als hätte es das alles nie gegeben.

Chance und Aufforderung zugleich

Und doch bietet sich in all diesem Wahnsinn wieder eine große Chance. Bewusstsein zu schärfen – und endlich wirklich wichtige Strukturen zu schaffen. Dabei müssen die Betroffenen mit absolutem Vorrang behandelt werden.

Die Entschädigungs- und Hilfefonds müssen jetzt vollständig gefüllt und zugänglich gemacht werden.

Der Ausbau der Beratungsstellen gegen sexuellen Missbrauch muss genau so vorangetrieben werden, wie der Ausbau von Anlaufstellen für Pädophile bzw. Täter. Dabei gilt es endlich das  Wissen, nämlich dass knapp 60% der Täter nicht pädophil sind einzubeziehen.

Wir brauchen die Möglichkeit nach britischem oder amerikanischen Vorbild jederzeit eine unabhängige Aufklärungskommission zu berufen, um im Institutionen oder Organisationen egal welcher Art untersuchen zu können.

Der Sprung vom Polaroid- ins digitale Zeitalter

Der digitale Kinderschutz muss rechtlich verankert werden. Er muss den Sprung ins heute schaffen. In ein Zeitalter in dem man überall und jederzeit mit seinem Telefon oder Tablet entblößende oder gar sexualisierte Fotos schießen, hochladen und verbreiten kann.

Hoffen wir, dass diese Chance nicht wieder ungenutzt verstreicht.

Wer hilft Betroffenen von damals? Und wer den Kindern und Jugendlichen heute?

The Daily Abuse

2010 begann die Lawine der Fälle sexuellen Missbrauchs in Institutionen. Opfer berichteten Fälle der vergangenen Jahrzehnte und ließen sich nicht mehr zum Schweigen bringen.

Dachte man.

Wer übernimmt endlich die Verantwortung?

Die aktuelle Debatte um pädokriminelle Strömungen, die unter anderem Einfluss fanden bei den Grünen, den Jungen Liberalen, dem Kinderschutzbund und selbst in vom Berliner Senat finanzierten sozialpädagogischen Projekten, zeigt jedoch vor allem eines: Nur wenige übernehmen Verantwortung und treten tatsächlich für Betroffene ein.

Stattdessen hören wir dieser Tage viele Schuldzuweisungen und sehen viele mit dem Finger der Verantwortung auf andere zeigen. Wir hören keine leisen Töne und wir hören vor allem niemanden, der sagt jetzt packen wir es wirklich an.

Nicht die noch regierende Parteien, nicht die an die Macht strebenden Parteien, noch nicht einmal den unabhängigen Beauftragten zu Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs.

Missbrauch ist immer hochaktuell

Im Jahr 2012 wurden 12.623 Fälle sexuellen Missbrauchs zur Anzeige gebracht.

Hinter dieser Zahl verbergen sich 14.865 missbrauchte Mädchen und Jungen.

Nehmen wir an, diese Mädchen und Jungen werden 20mal missbraucht, bevor sie Hilfe finden.

Dann sprechen wir über mindestens 297.300 Missbrauchshandlungen im Jahr: 297.300mal Angst, Schmerz, Ohnmacht, Ekel, Scham, sich der Übermacht des Täters oder der Täterin ausgeliefert fühlen.

Das sind mindestens 24.775 Missbrauchshandlungen pro Monat. Oder 814 Missbrauchshandlungen am Tag. Oder 34 in der Stunde.

Das bedeutet: alle 34 Sekunden beginnt ein Missbrauch in Deutschland – und das sind nur die angezeigten Fälle.

Führen wir uns jetzt vor Augen, dass laut einer Studie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens nur jeder 5. Missbrauch angezeigt wird. Das heißt, wir sprechen von 63.115 Fällen sexuellen Missbrauchs alleine im vergangenen Jahr. Wie viele Handlungen mögen das sein?

Also welche Signale senden wir?

Welches Signal senden wir denen, die Missbrauch überstanden? Dürfen sie tatsächlich  darüber sprechen? Oder müssen sie nicht doch lieber weiter schweigen, weil sie immer noch auf Ausgrenzung und Unverständnis stoßen.

Welches Signal senden wir den Mädchen und Jungen, die heute missbraucht werden? Sind wir bereit ihnen zu helfen? Wirklich zuzuhören? Ihnen Sicherheit zu geben und nicht wie auch jetzt die Verantwortung abzuwälzen.

Zum Weltkindertag, zwei Tage vor der Bundestagswahl 2013 ist ein guter Zeitpunkt für alle Parteien und die Gesellschaft sich ihrer Verantwortung zu stellen: Sexuellen Missbrauch zu bekämpfen, Opferversorgung zu gewährleisten und funktionierende Prävention voranzuteiben.